Der Krimkrieg (1853-56) ist in Deutschland kaum ein Thema. Anders als in Großbritannien, wo die Museen voll sind mit Exponaten und Dichter wie Alfred Tennyson die Schlachten in Gedichten („The Charge of the Light Brigade“) verewigten, waren deutsche Staaten nicht beteiligt an dem Krieg, der in vielerlei Hinsicht einer der ersten modernen Kriege war[i]. Der Konflikt, begonnen als Auseinandersetzung zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich und später durch das Eingreifen Frankreichs und Großbritanniens internationalisiert, wäre schnell zu Ende gewesen, wenn die weit überlegene russische Armee die Donau überschritten hätte. Denn das Kriegsgeschehen fand nicht nur auf der Halbinsel Krim in Sewastopol statt, sondern auch in den so genannten Donaufürstentümern Moldau und Walachei (heute Bulgarien und Rumänien), die zum osmanischen Reich gehörten.
Im Frühling 1854 begannen die russischen Streitkräfte mit einer Offensive in Bessarabien (heute Rumänien). Truppen des russischen Marschalls Iwan Fjodorowitsch Paskewitsch begannen Ende April mit bis zu 80.000 Soldaten die Belagerung der Stadt Silistra an der Donau, einer Schlüsselfestung. Nach einer Eroberung Silistras wäre der Weg in die türkische Hauptstadt Konstantinope (heute Istanbul) frei gewesen. Dass das nicht so kam, ist die Leistung eines Trierers.
Friedrich Grach wurde 1812 in Trier als Sohn des Medizinalrates Johann Michael Grach (1776–1820) und dessen Ehefrau Anna Catharina Lintz (1779–1858) geboren[ii], stammte also aus einer sehr angesehenen, einflussreichen und wohlhabenden Trierer Familie[iii]. Er war ein Großneffe des bekannten Weinhändlers und Weingutsbesitzers Emmerich Grach, der stellvertretender Bürgermeister Triers war und Napoleon bei dessen Besuch in Trier am 6. Oktober 1804 in Trier willkommen hieß und Karl Marx‘ Geburtsurkunde unterzeichnete. Ebenso empfing Emmerich Grach, nachdem Trier preußisch geworden war, den Kronprinzen Friedrich Wilhelm in Trier. Friedrich Grach ist damit auch verwandt mit Günther Jauch, denn Friedrichs Großonkel Emmerich ist einer der Ururururgroßväter Jauchs, der auch Erbe des Kanzemer Weinguts von Othegraven ist, dass Emmerich Grach Anfang des 19. Jahrhunderts gekauft hatte. Friedrich Grach besuchte das Gymnasium in Trier und kannte auch den sechs Jahre jüngeren Karl Marx, der die gleiche Schule besuchte. In seinem Briefwechsel mit Friedrich Engels über die politischen und militärischen Ereignisse in der Welt, schreibt er das am 13. Juni 1854 auch. „Der Kolonel Grach ist ein Bekannter von mir, aus Trier, keiner der preußischen Instruktoren sondern ein talentvoller Adventurer, der schon seit neunzehn Jahren oder so sein Glück in der Türkei versuchen ging“.[iv]
Im Anschluss an seine Schulzeit ging Friedrich Grach zur Armee und wurde Soldat bei der 8. Artillerie-Brigade in Koblenz, aus dem später das in Teilen auch in Trier stationierte Feldartillerie-Regiment von Holtzendorff (1. Rheinisches) Nr. 8 entstand[v] und 1899 auch das Triersche Feldartillerie-Regiment Nr. 44, das in St. Maximin und der Artilleriekaserne in der heutigen Schönbornstraße in Garnison lag. Von 1830 bis 1831 besuchte Grach die Brigadeschule erster Klasse in Koblenz und ging anschließend 1835 zur Garde-Artillerie Brigade nach Berlin[vi], einer Eliteeinheit der Artillerie – ein Hinweis auf seine Fähigkeiten.
1841 schickte die preußische Armee Friedrich Grach, mittlerweile im Rang eines Wachtmeisters („Feldwebel“), als Militärberater in die Türkei nach Istanbul, um die völlig veraltete türkische Artillerie nach preußischem Vorbild zu reorganisieren. Hier wurde er zum Offizier befördert und pflegte Freundschaften mit anderen Deutschen, so zum Beispiel mit dem Handelsvertreter Julius Kiefer, der 1871 Bürgermeister von Saarbrücken werden sollte[vii]. 1848 wurde Grach zurück nach Deutschland berufen, nahm jedoch mit Einverständnis der preußischen Armee seinen Abschied und blieb in der Türkei, jetzt als Angehöriger der türkischen Armee, mittlerweile im Rang eines Majors und mit hohen Orden des osmanischen Sultans Abdülmecid I.[viii] Einen weiteren hohen Orden erhielt Grach vom türkischen Sultan Abdülmecid I. nach der Verteidigung Silistras. Dieser „Meschidie-Orden“ (Mecidiye-Orden, auch Medschidié oder Medjidie (türkisch: Mecîdî Nişanı oder Mecidiye Nişanı)[ix] befand sich, ebenso wie zugehörige Säbel (oder Degen?) Friedrich Grachs, später im Vorläufer des Trierer Stadtmuseums in der so genannten „ortsgeschichtlichen Sammlung“ im Roten Haus Ecke Dietrichstraße/Hauptmarkt und war dort ausgestellt[x].
Nach Ausbruch des Krimkrieges wurde Friedrich Grach nach Silistra kommandiert und übernahm dort die Leitung der Artillerie und den Ausbau der Befestigungen, die in schlechtem Zustand waren. Silistra war bereits während des russisch-türkischen Krieges 1828-29 belagert worden und die damals erlittenen Beschädigungen waren nie ganz beseitigt worden. Die wenigen Monate bis zum Eintreffen der russischen Belagerer nutzte Grach zum Ausbau der Befestigungen. Er ließ Forts anlegen, darunter ein Arab Tabia genanntes Erdwerk, das die Schlüsselstellung Abd-ul-Mejid deckte[xi]. Nominell befehligte der türkische Statthalter und Befehlshaber Mussa Pascha die 8.000 bis 12.000 Verteidiger[xii]. Doch kaum ein zeitgenössischer Bericht vergisst zu betonen, dass Friedrich Grach der Kopf und Antreiber hinter der Verteidigung Silistras war, dass er das Vertrauen der osmanischen Soldaten hatte und dass Mussa Pascha ihn vor jedem Befehl um Rat fragte. Die damals Aufsehen erregende „glänzende Verteidigung“ der Schlüsselfestung, über die tage- und seitenlang in Europas Zeitungen berichtet wurde, wird vor allem dem mittlerweile zum Oberst beförderten Friedrich Grach zugeschrieben. Nach 55 Tagen brach die russische Armee die Belagerung ab. Eine türkische Entsatzarmee nahte und Österreich drohte dem russischen Reich. Friedrich Grach oder „Grach Pascha“ war zum weltweit beachteten Helden geworden. In der Türkei wurden Theaterstücke über die Belagerung aufgeführt, in Paris wurde die Belagerung gar auf den Champs de Mars nachgespielt[xiii].
Einträge über Grach in Lexika wie Meyers Konversationslexikon[xiv] oder Erwähnungen in Werken über den Krimkrieg waren selbstverständlich. Der preußische Gesandte in Konstantinopel verfasste eine Beschreibung der Taten Grachs, die er nach Berlin schickte. Was ihn von den vielen anderen Militärberatern aus Preußen, Großbritannien und Frankreich unterschied, war, dass er perfekt türkisch sprach und sich den Sitten seiner Soldaten anpasste. Nur das „ in der türkischen Partei traditionelle Kopfabschneiden“ verbot Grach.
Den Ruhm der Nachwelt heimsten allerdings zwei Engländer ein, die ebenfalls an der Belagerung teilnahmen[xv]. Lieutenant Charles Nasmyth von der Bombay Artillery und Captain James A. Butler vom Ceylon Rifle Regiment[xvi]. Butler starb 27-jährig während der Belagerung, hinterließ ein 18-seitiges Tagebuch[xvii] und wurde in England mit Gedichten und Denkmälern als Held gefeiert und posthum zum Captain des renommierten Regiments Coldstream Guards befördert[xviii]. Karl Marx macht sich in seinen Briefen über die „ groteske Renommisterei“ der Engländer lustig „als wenn Nasmyth und Butler Silistria alleine gehalten hätten“.
Nach dem Ende der Belagerung ging Friedrich Grach nach Rusçuk (heute Ruse in Bulgarien), wo er sich mit einer einheimischen Frau verlobte. Bevor er sie heiraten konnte, erkranke er. Während seiner Genesung infizierte er
sich mit Cholera und starb am 25. August 1854 in Ruse.
In Trier hinterließ Friedrich Grach kaum Spuren. Einer der letzten Hinweise auf die Verbindung Triers zum Krimkrieg verschwand 2012. Damals machte die Traditionsgaststätte „Krim“ nach fast 150 Jahren dicht. Das Gasthaus bekam seinen Namen 1864, weil die Trierer dort heiß über den Krimkrieg debattierten[xix]. Wohl auch wegen der Beteiligung des Trierers Friedrich Grach.
Quellen:
[i] Fesser, Gerd: Europas erstes Verdun. In: Die Zeit. Nr. 33, 7. August 2003.
[ii] Neue hervorragende Persönlichkeiten auf dem jetzigen Kriegsschauplatz. Leipzig 1855. S. 15f
[iii] Die Geschichte der Familie Lintz, Koblenz und 1650 bis 2004. www.cscpro.de/lintz/index.php?id_pers=210#baum Letzter Aufruf 13. Juni 2019.
[iv] August Bebel (Hrsg.), Eduard Bernstein (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Friedrich Engels und Karl Marx, Band 2. Bremen 2012. S. 28.
[vi] Jurende’s vaterländischer Pilger. Geschäfts- und Unterhaltungsbuch für alle Kronländer des österreichischen Kaiserstaates. 42. Jahrgang, Wien 1855. S. 120.
[vii] www.saarbruecker-stadtwerke.de/media/download-59b6a28969b08. Letzter Aufruf 13. Juni 2019
[viii] Ergänzungs-Conservationslexicon. Ergänzungsblätter zu allen Conversationslexiken. Hrsg. unter der Red. von Fr. Steger, Band 10. Leipzig und Meißen. S. 287 ff.
[ix] https://de.wikipedia.org/wiki/Mecidiye-Orden. Letzter Aufruf 13. Juni 2019
[x] P. Züscher: Führer durch die “Ortsgeschichtliche Sammlung“ in dem Roten Hause zu Trier. In: Trierische Chronik. Zeitschrift der Gesellschaft für Trierische Geschichte und Denkmalpflege. V. Jahrgang Nr. 10/11.Trier, Juli/August 1909. S. 161/162.
[xi] Köremezli, İbrahim: Ottoman war on the Danube. State, Subject, and soldier. (1853-1856). Dissertation. İhsan Doğramacı Bilkent University Ankara. December 2013.
[xii] Kentenich, Gottfried: Ein Trierer in türkischen Diensten während des Krimkrieges. In: Trierische Chronik. Zeitschrift der Gesellschaft für Trierische Geschichte und Denkmalpflege. IX. Jahrgang Nr. 3/4.Trier, Dezember/Januar 1912/13. S. 57 ff.
[xiii] L'Illustration, Journal Universel, No 599, Volume XXIV, August 19, 1854.
[xiv] Meyers Konversations-Lexikon, 4. Auflage von 1888 bis 1890.
[xv] Siege of Silistria 1854. National Army Museum London, Study collection. https://collection.nam.ac.uk/detail.php?acc=1964-04-58-6. Letzter Aufruf 13. Juni 2019
[xvi] James J. Reid. Crisis of the Ottoman Empire: Prelude to Collapse 1839-1878. Stuttgart 2000. S. 254.
[xvii] Manuscript journal compiled by Capt J A Butler whilst serving at the defence of Silistra, in which he provides a daily account of the siege from 15 May to 15 Jun 1854. National Army Museum London. 1974-02-129
[xviii] Captain Harold E. Raugh jr: The siege of Silestria 1854, from the Journal of Captain James A. Butler, Ceylon Rifle Regiment.
[xix] Stadtarchiv Trier. Nachlass Ferdinand Laven: Benennung der Trierer Gaststätte „Zur Krim“ nach den dort stattgefundenen Diskussionen um den Krimkrieg. Signatur 3171.
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Helmut Haag (Mittwoch, 12 Juni 2019 17:15)
Danke Ernst für diesen hintergründigen und informativen Beitrag. Bin stets an Mehr von Deiner kenntnisreichen Heimat interessiert. Dau uräringsten Trierer Biwak ... ;-), herzlich, Helmut.
Vitus Hilgers (Freitag, 14 Juni 2019 01:17)
Ein großartiger Artikel, danke dafür!